Texts by the artist
In Beziehung zur Illustration

Katrin von Maltzahn: In Beziehung zur Illustration
In: Michael Glasmeier (Hg.), Strategien der Zeichnung: Kunst der Illustration, Textem Verlag 2014

In vielen meiner Arbeiten spielen biografische Gegebenheiten, gefundene Geschichten oder Recherchen eine auslösende Rolle. Obwohl nicht immer sofort sichtbar, sind alle meine Werke von Auseinandersetzungen mit Sprache und Zeichen inspiriert. Häufig verwende ich Sprachfragmente oder Typografie. Eine Reihe von früheren Projekten bezieht sich auf das Erlernen von Sprache. Dabei arbeitete ich mit Verknüpfungen von Bild und Text. Neuere Bilderserien bestehen häufig aus Zeichen oder sind daraus zeichnerisch und malerisch entwickelt. Meine Arbeitsweise ist experimentell, gelenkt von meinen Ausdrucksmitteln und dem Kontext. Mir ist wichtig, dass am Ende Bilder entstehen, die mich überraschen und über Sprache hinaus autonomen visuellen Ausdruck besitzen.

Für meinen Vortrag im Rahmen von „Strategien der Zeichnung – Kunst der Illustration“ und jetzt auch für diesen Text habe ich eine Auswahl von Arbeiten zusammengestellt, die in Beziehung zur „Illustration“ gestellt werden können. Allen ist gemeinsam, dass sie keinen stringent narrativen Zusammenhang besitzen, sondern dass der Betrachter sie durch seine eigenen Erlebnisse und seine Einbildungskraft vervollständigen und sich aneignen kann.


1. Erinnerungsauslöser

Bilder, Gerüche, Klänge können als Auslöser von Erinnerung fungieren. Bereits anhand winziger Hinweise leben tief im Gehirn verborgene Szenen wieder auf – und können in das Bewusstsein zurückgerufen werden. Diese sinnliche Reaktivierung der Vergangenheit ist nicht wertfrei, sondern vermittelt auch die Bedeutung, die Empfindungen und Gefühle in Bezug auf die gespeicherten Erlebnisse haben (1).  Marcel Proust hat das Phänomen in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschrieben: Der Geschmack eines in Lindenblütentee getunkten Gebäckstückes namens Madeleine dient dem Protagonisten Charles Swann als Schlüssel zu seiner Kindheit.

(1) Siehe Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit, Reinbek 1999.

„Von Orwo zu Agfacolor“
Das erste von sieben Aquarellen meiner Serie „Von Orwo zu Agfacolor“ von 1996 zeigt zwei Mädchen in langen dunklen Mänteln. Es beruht auf einer im Winter 1976 in einem Fotostudio in Grevesmühlen (Mecklenburg) aufgenommenen Schwarz-Weiß-Fotografie. Zu sehen sind meine zehn Minuten jüngere Zwillingsschwester Heide und ich. Das Bild war als Andenken für unsere Eltern bestimmt, die seit dem 23. November 1975 wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis in Bautzen und Hoheneck einsaßen. Die Mäntel waren uns zusammen mit Jeansschlaghosen, Hitschler-Kaugummikugeln, Haribo-Süßigkeiten, Schokoladenzigaretten, Lux-Seife, Kaba-Instant-Kakao und Melitta-Kaffee in riesigen Weihnachtspaketen von unseren Lübecker Verwandten geschickt worden. Die Pakete verströmten beim Öffnen einen wunderbaren Geruch, den ich bis heute nicht vergessen habe. Die Situation mit dem Grevesmühlener Fotografen war verkrampft – er forderte uns auf, eine kleine gelbe Quietscheente anzulächeln, die er rechts neben seiner Kamera hochhielt. Wir gehorchten. Ich erinnere mich an die Schwere des steifen Wintermantels, meine fettigen Haare, den ernsten und ungewöhnlichen Zweck der Bilder – führte ich doch ansonsten trotz der Ausnahmesituation ein recht sorgloses, fröhliches Dasein bei meinen Großeltern und mit meinen Schulfreundinnen.

Für das fünfte Aquarell der Serie benutzte ich ein Farbfoto meiner ersten Ferien nach unserer Familienzusammenführung im Westen, im Herbst 1977 auf Rhodos, als Vorlage. Ich bin dreizehn und liege im gestreiften Sommertop am Strand neben meinem Vater. Ob ich tatsächlich so fröhlich war wie auf dem Bild dargestellt oder ob ich nur posiere, weiß ich nicht mehr. Die Betrachtung dieses Aquarells ruft immer noch starke Eindrücke von damals in mir hervor: vom ersten Mal fliegen, säuerlichem Schafskäse und kratzig süßem Halva, dem Anblick der knorrigen Stämme in den Olivenhainen, von Obstbäumen voller reifer Feigen und Orangen, dem Blau des hoteleigenen Swimmingpools, dem hohen Salzgehalt des lauwarmen Mittelmeers, der Verlängerung des Sommers in den Herbst hinein … Aber auch die Kehrseite der Medaille kommt mir immer noch in Erinnerung: die Abwesenheit meiner ostdeutschen Familie und Schulfreunde, die Fremdheit gegenüber meinen Eltern, der Wechsel in das andere Deutschland und alles, was damit verbunden war.

2. Sprache

Sprache ist ein lebendiges, sich ständig weiterentwickelndes System von Wörtern, Zeichen und Regeln, die einer Sprachgemeinschaft als Verständigungsmittel dienen. Wörter, die nicht angewendet werden, geraten in Vergessenheit, und veränderte Lebensbedingungen bringen notwendigerweise neue Begriffe hervor. Sprache ist wesentlicher Bestandteil einer Kultur, deshalb ist das Erlernen einer fremden Sprache eng mit dem Verstehen der Kultur verknüpft. Zeichen setzen sich zum Alphabet zusammen – es dient der Speicherung und dem Transport von Sprache. Mit Zeichen können allerdings auch Wörter gebildet werden, ohne dass man deren Inhalt versteht.

„English for you“
Im Jahr 1995 wurde ich zu einer Ausstellungsteilnahme in London eingeladen – das Thema war „Berlin“. Damals waren die Unterschiede zwischen den Menschen aus dem Osten und dem Westen Berlins noch ziemlich offensichtlich. Zum Beispiel konnten die meisten Ost-Berliner kein Englisch sprechen. Dies erschien wie eine unsichtbare, aber deutliche Grenze zwischen den Menschen. Mir kam die Idee zu einem Projekt über die „englische Sprache“ – auf der Grundlage meiner eigenen Englisch-Lernerfahrungen während meiner Schulzeit – zunächst in Ost-, später dann in Westdeutschland.

Bis 1977 wuchs ich in Ostdeutschland auf, wo ich meinen ersten Englischunterricht hatte. Englisch wurde mit Hilfe von Büchern und der Fernsehsendung „Еnglish for you“ gelehrt.

Der Fremdsprachenunterricht in Deutschland nach 1945 stand stark unter dem Einfluss der Besatzungsmächte. In den westlichen Zonen entwickelten sich Englisch und Französisch schnell zur Norm. In der russischen Besatzungszone wurde Russisch als erste Fremdsprache unterrichtet.

Angesichts der weltweiten technologischen Entwicklung und um die Wirtschaft seines Landes anzukurbeln, rehabilitierte Walter Ulbricht (Vorsitzender des Staatsrats der DDR von 1956 bis 1973) im Jahr 1958 per Dekret den Englischunterricht in der DDR. Diese Entscheidung stellte einen bedeutenden Wandel dar, denn „Englisch“ stand für die Sprache des Kapitalismus, des Klassenfeindes. Zur Unterstützung der Englischlehrer und als Erleichterung für die Schüler wurde 1962 im Volksbildungsministerium die Produktion des englischen Fernsehsprachkurses „English for you“ beschlossen. Die Dokumentarfilmstudios der DEFA in Babelsberg produzierten von 1963 bis 1966 insgesamt 35 Sendungen. Im Jahr 1965 hatte die erste Sendung im Fernsehfunk der DDR Premiere.

Für die Produktion der Sendungen wurden englische Muttersprachler gesucht. Man bemühte sich um Schauspieler, die mit der DDR sympathisierten. Die Engländerin Diana Loeser lebte bereits in der DDR. Sie war als Kommunistin 1956 mit ihrem Mann, einem deutschen Emigranten in England, in die DDR übergesiedelt. In der Sendung übernahm sie die Rolle der Moderatorin. Die Hauptrollen der Episoden wurden mit Alan Clarke alias Tom und Valerie Lester alias Peggy besetzt. Clarke, ein englischer Schauspieler, der aus einer bekannten kommunistischen Familie stammte, wurde von Diana Loeser für die Sendung engagiert. Lester lebte aus persönlichen Gründen für einige Jahre in der DDR. Die Drehbücher wurden von ostdeutschen Pädagogen geschrieben.

Zur Vorbereitung meiner Arbeit reiste ich nach England und traf mich mit den ehemaligen „English for you“-Schauspielern und mit Stanley Forman, Geschäftsführer von „Educational & Television Films Limited“. Die Gesellschaft unterhielt ein Filmarchiv und versorgte die Linke und insbesondere die kommunistische Bewegung mit Filmen aus dem sozialistischen Teil der Welt. Forman organisierte seit den sechziger Jahren britische Schauspieler für die „English for you“-Filme.

In Deutschland, besorgte ich mir meine ehemaligen Schulbücher und studierte sie erneut. Die alten „English for you“-Filme fand ich im DDR-Filmarchiv in Berlin-Adlershof. Viele von ihnen waren bereits zerstört, da man zu DDR-Zeiten Silber aus veraltetem Filmmaterial zurückgewann.

In der Realität lernte in der DDR so gut wie niemand die englische Sprache. Die Möglichkeit und die Motivation, Englisch zu sprechen, existierten einfach nicht. Was mich heute an dem Unterrichtsmaterial fasziniert, erschien mir in meiner Kindheit vollkommen langweilig und überflüssig.

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How do you do
Als ich 13 war, zogen wir in die Bundesrepublik. Dort erlebte ich während meiner Schulzeit sehr direkt die enge Verbindung von Sprache und Kultur. Es gab eine Menge an Fragezeichen und Missverständnissen. Ich erlebte, dass Zugehörigkeit zu einer Kultur viele unausgesprochene Vereinbarungen und spezifische Kenntnisse voraussetzt.

Nach der Beschäftigung mit meinem ostdeutschen Schulmaterial widmete ich mich, meiner Biografie folgend, den westdeutschen Englischbüchern. Dafür kramte ich meine eigenen alten Bücher vom Dachboden meiner Eltern hervor. Die entstandenen Arbeiten wurden nach ihrem Titel „How do you do“ benannt. Ich konzentrierte mich auf die Vokabelbücher und stellte Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Bild und Text an. Zu meiner Überraschung entdeckte ich eine Menge meiner eigenen handschriftlichen Übersetzungen von englischen Wörtern auf den Buchseiten. Und fast alle waren falsch!

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Svenska för invandrare
Jahre später, 2002, ergab sich die Gelegenheit für ein weiteres Sprachlernprojekt, bei dem ich gezielt eine neue Sprache lernte. Während eines Stipendiums in Göteborg besuchte ich den obligatorischen Schwedisch-Sprachkurs für Immigranten, „Svenska för invandrare“ (Schwedisch für Einwanderer). Drei Monate machte ich nichts, außer Schwedisch zu lernen. Ich sammelte Material und professionalisierte ziemlich schnell die Technik des Aufsatzschreibens. Ich wollte alle Erfahrungen des Lernens und meine Wahrnehmungen beim Eintreten in eine fremde Sprachkultur archivieren. Während des Kurses entwickelte ich die Idee eines Sprachlernbuches aus Schülerperspektive.

Ich teilte mit den anderen Schülern meiner Klasse, die hauptsächlich von außerhalb Europas stammten, den Umstand, Ausländerin in Schweden zu sein. Allerdings verstand niemand, was ich eigentlich in Schweden zu suchen hatte, da es doch in Deutschland noch viel besser sei. Ziemlich schnell entwickelten sich Freundschaften, insbesondere unter den Frauen innerhalb der Gruppe. Außer der neuen Sprache und dem Kennenlernen eines neuen Landes bekam ich einen Einblick in das Leben nichteuropäischer Immigranten in Schweden.

Mein Resultat ist ein großes Buchmodell, das ich als Wandinstallation zeige. Ich verwende das „Вuch“ als ein Medium zum Speichern und Ausdrücken meiner Erfahrungen beim Lernen einer fremden Sprache und beim Fremdsein in einem anderen Land. Und natürlich sind „Sprachbücher“ wichtige Werkzeuge zum Erlernen einer Sprache. Meines setzt sich aus den Umschlagseiten, einem Inhaltsverzeichnis und zwölf kurzen Kapiteln zusammen. Einige basieren auf dem Material meines Sprachunterrichts – sie beziehen sich auf meine Mitschüler und die Schulstunden. In anderen archiviere ich Spuren, die ich bei dem Prozess des Sprachelernens und des Lebens in der Fremde verfolgt habe. Das sind Dinge, die später schnell in Vergessenheit geraten, wenn man sich eingewöhnt hat.

Die meisten Kapitel bestehen aus einer Text- und einer Bildseite. Die Texte sind von meinem Lehrer farbig korrigiert. Eines meiner frühen Kapitel heißt „Оrdsamlingar“, (Wortsammlungen). Hier nähere ich mich assoziativ und physisch der Sprache. Der Text erzählt zum Beispiel, wie sich ein Wort im Hals anfühlt – ob es kratzt oder mir behagt. Die Bildseite ist eine Collage aus zwei Wortlisten – von meinen damaligen Lieblings- und meinen Problemwörtern. Hierbei betrachtete ich die Wörter wie Dinge – manche erschienen mir naturgegeben und leicht – andere unhandlich und sperrig. Heute, wo ich besser Schwedisch kann, würden diese Wortgruppen anders aussehen. Ein weiteres Kapitel heißt „Мiljonprogram“ (Millionenprogramm) und handelt von einem utopischen Bauprogramm Schwedens in den sechziger Jahren. Aufgrund von Wohnungsmangel beschloss die Regierung damals, in den Vorstädten eine Million neue Apartments zu bauen. Die Gebäude mussten kostengünstig und binnen kurzer Zeit entstehen. Was als Umsetzung von utopischen Ideen angepriesen wurde, wie neue Materialien, außergewöhnliche Formen, flexible Wände, stellte sich ziemlich bald als ungeeignet für die Bedürfnisse der Bewohner heraus. In den Gebäuden wohnten mittlerweile hauptsächlich Immigranten – darunter auch viele meiner Schwedisch-Mitschüler.

In anderen Kapiteln geht es um „Singen in Schweden“, „Frauen in Schweden“, „Fernsehprogramme“, „ Biografien meiner Mitschüler“, „Schulexkursionen zu Volvo“ oder um „Museumsbesuche“. Ein besonderes Ereignis war ein Besuch beim Gericht. Wir wohnten einer Verhandlung bei. Der Tag war von langer Hand geplant und auch sprachlich sorgfältig vorbereitet – sodass wir alle Spezialbegriffe verstehen würden. Bei dem Angeklagten handelte es sich um einen Mann aus dem Iran – er hätte ein Schüler aus unserer Klasse sein können.

Gemeinsam mit Glänta, einer schwedischen Philosophie- und Kulturzeitschrift, konnte ich 2004 in einer Ausgabe mein Sprachlernbuch als Faksimile veröffentlichen. Die Herausgeber luden zusätzlich Autoren, wie Philosophen, Schriftsteller, Linguisten und Soziologen ein, zu ähnlichen Themen  Texte aus ihrer Perspektive beizusteuern.

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Plots
Nicht hinter all meinen Arbeiten verbergen sich umfangreiche Recherchen und Geschichten. Jetzt komme ich zu einer fortlaufenden Serie von Zeichnungen. Ich habe sie „Plots“ genannt. Sie bestehen aus den leicht abgewandelten Buchstaben unseres Alphabets.
Das englische Wort „plot“ hat unterschiedliche Bedeutungen. Es kann für die Handlung einer Geschichte stehen, ein geheimer Plan sein, ein Grundstück oder auch der Ausdruck eines Kurvenschreibers sein. Für mich haben Zeichnen und Schreiben etwas gemeinsam – insbesondere, wenn ich mich auf Bleistift und Papier beschränke wie in diesen Blättern. Und zusätzlich bestehen diese Zeichnungen aus Buchstaben und Codes: Diese dienen mir als mein Arbeitsmaterial – vergleichbar mit Papier und Stift. Sie werden zu einer Art von Schraffur.

Jede Zeichnung beginnt mit einer „Geschichte“ – einem „Plot“ in meiner Vorstellung. Bei einer hatte ich zum Beispiel einen architektonischen Grundriss im Kopf. Der Ausgangspunkt für eine andere war ein Traum von Machu Picchu, der Ruinenstadt der Inka hoch in den Anden von Peru. Die meisten der auslösenden Geschichten habe ich jedoch vergessen. Während des Arbeitsprozesses verselbstständigt sich meine Ausgangsidee. Sie löst sich in Zeichnung auf. Man kann sich diesen Prozess wie Assoziationsketten vorstellen, die an einem bestimmten Punkt statt mit Text visuell fortgesetzt werden.

3. Gebrauchsanweisung

Gebrauchsanweisungen behandeln das Verhältnis zwischen Mensch und Technik. Sie erklären auf allgemeine Weise die bestimmungsgemäße und sichere Benutzung von Produkten, Werkzeugen und Artefakten, mit denen wir uns umgeben. Voraussetzung ist, dass die Rezipienten die Bilder, Symbole und Wörter – die Grundelemente, aus denen sich Gebrauchsanweisungen zusammensetzen können – verstehen.

Tools
In vielen meiner Arbeiten befrage ich meine Werkzeuge. Dazu gehören für mich Sprache und die Medien, mit denen ich arbeite.

Die Serie „Tools“ besteht aus elf Radierungen, die ich in möglichst vielen Radiertechniken umgesetzt habe. Ich beziehe mich darin auf die Werkzeuge, Materialien und Geräte zum Herstellen eines Tiefdrucks. Die konkreten Werkzeuge zum Drucken haben mir für meine Bilder Modell gestanden. Bei allen Blättern kombiniere ich Typografie und Bild.

Auf dem ersten Druck geht es um den Druckstock, die „Radierplatte“. Der zweite ist von der „Grundierung“ der Platte mit Asphaltlack inspiriert. Dies ist Voraussetzung für geätzte Linien. Weitere Blätter zeigen die Werkzeuge „Pinsel und Radiernadel“ sowie ein Gerät zum Erzeugen von feinen Rastern, die „Aquatinta-Box“. Das Bild davon habe ich mit Kolophoniumstaub gestreut. Dieser Stoff wird normalerweise in der Box aufgewirbelt, um sich dann als feines Pulver gleichmäßig auf der Platte abzusetzen. Durch anschließende Erhitzung entstehen feine Raster, die flächige Einfärbungen und Halbtöne ermöglichen.

Wichtig für die Radierung sind natürlich auch Elemente wie „Wasser“, „Feuer“ und „Säure“. Um die Natur des Feuers zu studieren, besorgte ich mir Kohlenanzünder, schnitzte die fünf Buchstaben des Wortes „Feuer“ daraus und zündete sie an. Das Blatt für „Papier“ ist ein Blinddruck des Wortes, eine Art Relief ohne Farbe.

„Farbe“ besteht aus dem fünffarbigen Wort „Color“. Ein anderes Blatt beinhaltet „Undefinierbares“. Es besteht aus Stapeln von Wörtern, die ich den Labeln von Flaschen und Pulvern entnommen habe, die sonst noch so in der Werkstatt benutzt werden, um Geheimrezepturen zu brauen und Spezialeffekte zu erzielen. Der elfte Druck zeigt dann aus feinen Schraffuren in Strichätzung gefertigt die „Presse“ – die eigentliche Vorrichtung, um das Bild schließlich sichtbar zu machen.

Bild, Text sowie die jeweilige Wahl der Umsetzung sind in jedem Blatt eng miteinander verwoben. Einerseits stütze ich mich auf die Prozesse für die Realisierung einer Radierung, anderseits gehen die Wort- und Assoziationsspiele über das Abgebildete hinaus.

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Modelle
Buch, Sprache, Buchstabe, Radierwerkzeug – ein weiteres und ziemlich alltägliches Arbeitsgerät ist der Computer, den ich in einer meiner wenigen skulpturalen Arbeiten, betitelt „Modelle“, als Ausgangspunkt benutzt habe. Die Arbeit begann mit einer Zeichnungsserie – mit „Modellzeichnungen“.

Zunächst tauschte ich eine Flasche Rotwein gegen einen neun Jahre alten Computer ein. Ich schraubte das Gerät auseinander und nahm sein Innenleben unter die Lupe. Dann machte ich Bleistiftzeichnungen von den einzelnen Komponenten. Dabei beschäftigte mich nicht deren Funktion, sondern allein die Formen der vielen Einzelteile – aus der Perspektive des unwissenden, staunenden Betrachters. Anhand der Zeichnungen modellierte ich stark vergrößerte Objekte in grobem Ton, ohne jegliche Berücksichtigung von maßstabsgetreuer Darstellung. Mein Ziel war weder eine realistische Wiedergabe der Objekte noch war ich an ihrer Funktion oder technologischem Know-how interessiert. Ich habe unter rein ästhetischen Gesichtspunkten gearbeitet und die gefundenen Formen frei interpretiert. Daraus ist ein großes Biotop aus organisch und anorganisch anmutenden Objekten hervorgegangen – zu meinem Erstaunen hat später ein Ausstellungsbesucher den exakten Computertyp meiner auseinandergenommenen Vorlage wiedererkannt.

Das Studium der Formen dieser elektronischen und mechanischen Komponenten ist vergleichbar mit den Vorgehensweisen von Archäologen, die vergessene Kulturen über die Betrachtung ihrer Artefakte zu entschlüsseln versuchen. In unserer Kultur gibt es neben Gebrauchselektronik nur wenige andere Objekte, die in derartiger Höchstgeschwindigkeit zum Fossil werden. Die Frage ist, ob irgendetwas davon für zukünftige Generationen von Interesse sein wird.

4. Katalysator

Der Begriff „Katalysator“ ist der Welt der Chemie entliehen. Er bezieht sich auf Stoffe, die Reaktionen herbeirufen und beeinflussen, dabei aber selber unverändert und unverbraucht bleiben. Auf die Kunst bezogen, kann man darunter Bedingungen oder Umgebungen verstehen, die Ideen anregen und schöpferische Prozesse ins Rollen bringen.

Afterglow Johannesburg
Meine fortlaufende Serie „Afterglow Johannesburg“ begann nach einem Aufenthalt in Südafrika im Jahr 2008. Ich kam mit ambivalenten Eindrücken nach Deutschland zurück. Was mich am meisten beschäftigte, waren die komplizierten und gefährlichen Lebensbedingungen, die Armut, die anhaltende Ungleichheit zwischen schwarzer und weißer Bevölkerung, die noch stark wahrnehmbaren Auswirkungen der Apartheid-Ära: massenweise Probleme, die unmöglich zu lösen scheinen. Auf der anderen Seite erlebte ich eine immense kulturelle Vielfalt. Südafrika hat seit dem Ende der Apartheid elf amtliche Landessprachen. Englisch ist zwar die Wirtschaftssprache – nimmt aber auf der Liste der am häufigsten gesprochenen Muttersprachen erst die fünfte Stelle ein.

Ich lernte einen Spezialisten für traditionelle afrikanische Kunst kennen. Er weihte mich in ihre Geheimnisse ein und weckte eine Leidenschaft in mir. Mich begeisterte das Kunsthandwerk Südafrikas – die traditionellen afrikanischen Perlenarbeiten und die aus Gräsern geflochtenen Gefäße. Viele von ihnen sind für Kultzwecke bestimmt und mit aufwendigen Mustern und symbolischen Motiven verziert.

Zu Beginn der 1990er Jahre wurde die Verarbeitung von Telefondraht zu Gefäßen erfunden. Ursprünglich hat man solche Gefäße aus natürlichen Gräsern und Palmenfaser hergestellt.

Telefondraht, der heute, im Zeitalter der Mobiltelefone, ein Abfallprodukt darstellt, wird recycelt – ein uraltes Handwerk auf ein neues Material angewandt. Statt Gräser dienen nun farbige Drähte als Material. Die Objekte, Gefäße und Schalen werden von den im städtischen Umfeld lebenden Zulu-Stammesleuten hergestellt. Zwei traditionell geschlechterspezifische Tätigkeiten sind in der Produktion vereint: das Flechten, ursprünglich den Zulu-Frauen zugeordnet, und die Verarbeitung von Metall, eine traditionell männliche Tätigkeit. Das bedeutet, dass sowohl Frauen als auch Männer Telefondraht verarbeiten können. Oft enthalten die Gefäße Botschaften und Symbole, die in die Muster hineingewebt sind oder Teile der Muster bilden. Nur Leute, die in diese Art von Sprache eingeweiht sind, können die Botschaften dechiffrieren.

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„Jorge Luis Borges visited Melbourne for 10 days“
2007 hatte ich einen Arbeitsaufenthalt in Melbourne. Ich wohnte im 14. Stock und hatte einen einzigartigen Ausblick auf das imposanteste Gebäude der Stadt – auf die State Library of Victoria – die Staatsbibliothek. Ihr Herzstück bildet der La Trobe Reading Room, ein riesiger, achteckiger Lesesaal. Kurz nach meiner Ankunft berichtete ein Freund, der Schriftsteller Jorge Luis Borges habe Ende der dreißiger Jahre in dem Kuppelsaal der Bibliothek gearbeitet – kurz bevor er erblindete. Borges’ Kurzgeschichten hatten Einfluss auf mehrere meiner Arbeiten, und so begann ich, nach seinen Spuren in Melbourne zu forschen. Ich durchsuchte die Register aller Borges-Bücher und Biografien nach dem Schlagwort „Melbourne“ – jedoch ohne Erfolg. Schließlich fand ich im Internetarchiv von The Age, einer der größten Tageszeitungen Australiens, einen langen Artikel, der Borges’ Besuch im Detail schildert. Ich erfuhr, dass der Schriftsteller 1938 für zehn Tage in Melbourne war. Er gab eine Lesung für seine Fangemeinde. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch lesend unter der Kuppel der State Library.

Borges hatte die weite, anstrengende Schiffsreise von Buenos Aires nach Melbourne unternommen, obwohl er unter ernsthaften gesundheitlichen Problemen litt. Nach seiner Rückkehr erkrankte er und verlor für immer sein Augenlicht. Erst nach langer Zeit begann Borges wieder zu schreiben. Um einen Neuanfang zu versuchen, hörte er mit seinen Gedichten und Essays auf und wählte eine neue Form. Es entstanden seine fiktionalen Kurzgeschichten – die ihn weltberühmt machen sollten.

Meine Borges-Bilder sind parallel zu der Recherche in Melbourne entstanden. Sie nehmen Spuren meiner Untersuchungen auf. Ich nutze die gefundene Geschichte als Inspiration und Anlass für meine Bilder. Aufgenommene Spuren sind z. B. die Oktogonform des La-Trobe-Lesesaals und seiner Kuppel. Ich versuchte, selber Oktogone zu konstruieren. Zuerst experimentierte ich ganz archaisch mit Papierfaltungen – einige Blätter haben dadurch etwas Dreidimensionales. Später verwendete ich Zirkel und Bleistift.

An einer Wand der Bibliothek entdeckte ich ein Borges-Zitat: „I who always thought of Paradise in form and image as a library“. Auf Deutsch: „Ich, der sich das Paradies immer in Gestalt und als Sinnbild einer Bibliothek vorstellte“. Auf der Suche nach dem Geist von Jorge Luis Borges besuchte ich die Bibliothek regelmäßig. Die Vollkommenheit des Lesesaals faszinierte mich. Überall gab es Achtecke – im Dekor, den Möbeln, der Architektur … Ich machte Farbstudien, versuchte, blind zu zeichnen und zu schreiben. So entstanden dann auch Blätter mit Schreibfehlern. Ich kam von der Vorstellung nicht los, dass der Kuppelsaal der Bibliothek zu Borges’ letzten visuellen Eindrücken gehört haben sollte. Jedem, den ich traf, erzählte ich die Geschichte. Dadurch erfuhr ich immer mehr über die Bibliothek. Ich hörte, dass die Kuppel in den siebziger Jahren als Planetarium genutzt worden war. Und eine junge Mitarbeiterin der Bibliothek stellte sogar eine Verbindung zwischen der Konstruktion des Lesesaals und der „Bibliothek von Babel“ her, einer von Borges’ bekanntesten Geschichten, in der Architektur eine entscheidende Rolle spielt. Sie verschaffte mir dann schließlich Kontakt zu einem Bibliothekar, der schon seit 30 Jahren in der State Library arbeitete.

Leider erwartete mich da eine große Enttäuschung, die ich dann allerdings konstruktiv verarbeiten konnte. Der Mann erklärte mir unmittelbar, dass der in der Zeitung gefundene Artikel eine berühmt-berüchtigte Falschmeldung sei, eine „Zeitungsente“. Ich erfuhr von einer ganzen Kultur der literarischen „Еnten“ in Australien. Natürlich war ich schwer enttäuscht – nach all den Bildern, die ich schon gemalt hatte!

Sowenig, wie ich mir noch wenige Wochen zuvor Borges’ lange Reise von Buenos Aires nach Melbourne hatte vorstellen können, sowenig konnte ich jetzt glauben, dass es nicht wahr sein sollte. Ich hatte alle Fakten des Zeitungsartikels überprüft – Orte, Personennamen, historische Ereignisse – und keinen Verdacht geschöpft, im Gegenteil. Verwirrt über diese seltsame Geschichte und die so unscharfe Grenze zwischen Realität und Fiktion setzte ich meine Arbeit fort.

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Erinnerungsauslöser, Sprache, Gebrauchsanweisung, Katalysator – die Überschriften meiner vier Rubriken sind, obwohl hier schwarz auf weiß gedruckt, flüchtig. In einem anderen Moment oder in einem anderen Kontext könnten sie durch andere Begriffe ersetzt werden – auch, wenn die gleichen Bilder gemeint sind. Dann können die einzelnen Arbeiten natürlich auch anders sortiert und eingeordnet werden. Die Geschichten zu ihnen sind ziemlich konsistent. Zugunsten der Darstellung, aufgrund von Erinnerungslücken oder um Bildhaftes in Sprache zu übersetzen, erlaube ich mir die Freiheit, zu erfinden und zu verändern. Letztendlich mache ich Bilder von etwas, über das ich nicht sprechen kann.