Texts on the artist
Some basics

Lutz Jahre: Some basics. In: AKMB News Nr. 3, Jahrgang 5 (Dez. 1999). P. 21-29

Der blaue Leihschein der Berliner Kunstbibliothek ist etwa 72 cm breit und 50 cm hoch. Er wurde außerdem - das ist eher die Ausnahme - gut leserlich ausgefüllt. Bestellt wurde "Mondrian auf der Tube" von Margit Weinberg Staber, dessen Signatur mit 8/1993/1193 angegeben ist. Auf dem Leihschein indes ist noch eine andere, weitaus künstlerischere Signatur zu entdecken, nämlich diejenige von Katrin von Maltzahn. Sie bestellte im November 1995 nicht nur das Buch, sondern sie machte auch aus ihrem Leihschein einen 120 x 90 cm großen Siebdruck. Die gerahmte Arbeit ist der linke Teil ihres "Hyperpainting Mondrian" genannten Diptychons. Der andere Teil, ebenfalls ein Siebdruck, gibt den vergrößerten Ausschnitt einer vorgefundenen, ziemlich engbedruckten Literaturliste zu Piet Mondrian wieder. In der Mitte dieses Blattes blieb eine Fläche leer, die in Format, Größe und Position dem blauen Rechteck des Leihscheins auf dem anderen Blatt des Diptychons entspricht. Der Schatten des Leihscheins wird wie durch ein Passepartout umrahmt von unzähligen Quellenangaben. Neben diesen "Mondrian Bildern" entstanden noch drei weitere Hyperpaintings, die jeweils Ad Reinhardt, Marcel Duchamp und Kasimir Malewitsch gewidmet waren. Diese Künstler waren von Katrin von Maltzahn aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die moderne Malerei ausgewählt worden. Zu sehen war das ganze Ensemble noch im selben Jahr in der Berliner Galerie Wohnmaschine. Ob der diensthabende Bibliothekar, der damals den Leihschein entgegengenommen hatte, auch die Ausstellung gesehen hat, ist leider nicht überliefert. Er aber wäre genau der Richtige gewesen, um bezeugen zu können, dass es zu einigen Künstlern unendlich viel Literatur gibt. Mit Klassikern wie Picasso, Beuys, Duchamp lassen sich in einer Büchersammlung zur Kunst des 20. Jahrhunderts problemlos gleich mehrere Regalböden füllen. Selbst Katrin von Maltzahns kleine Auswahl von Malern macht bereits deutlich, dass die Rezeption von Kunst selten vor dem originären, gemalten Werk stattfindet. Mehr und mehr wird sie auch bestimmt über umfangreiches theoretisches Wissen und ein immenses Informationsangebot, das sich gleich in mehreren verschiedenen Medien wieder findet. Diesem System der Verweise und der im Wissenschaftsbetrieb gängigen Literaturreferenzen geht die Künstlerin exemplarisch nach, nicht etwa um eine wissenschaftstheoretische Debatte zu führen oder um ein Lamento über den Kunstbetrieb anzustimmen - Dinge, die in einer Diskussion weitaus besser aufgehoben wären -, sondern um daraus eigene Bilder zu gewinnen. Wenn man den Bildinhalt, z. B. den von der Künstlerin persönlich ausgefüllten Leihschein genauer betrachtet (er enthält Namen, Adresse, Datum und ausgewähltes Buch), bemerkt man auch, dass dort, wie in einer anderen Art von Selbstporträt, persönliche und biografische Spuren hervortreten.

In den "Hyperpaintings" zeigen sich bereits einige der roten Fäden, die in Katrin von Maltzahns Werk angelegt sind. Sie beschäftigt sich vorzugsweise mit zwei großen Themenkomplexen: zum einen mit verschiedenen sprachlichen Zeichensystemen (wie später noch zu sehen sein wird) und zum anderen mit der Kunstarchivierung. Die Beschäftigung mit eher abstrakten Systemen wie Sprache und Archiv erschöpft sich allerdings nicht in theoretischen Betrachtungen, sondern führt in ein künstlerisches Terrain, das durch den Bezug auf menschliche Proportionen eine weitere Bedeutung erfährt, z.B. durch das quasi portraithafte Hervortreten der Künstlerin im Bildmotiv. Als Bezugspunkt für ihre Systembetrachtungen wählt von Maltzahn zudem immer ein konkretes, nachvollziehbares Umfeld. Beispielsweise knüpft sie häufiger an das Bedeutungsumfeld von Kunstliteratur und Bibliotheken an. Für ihre 1992 entstandene Arbeit "The twenty framed monochromatics" gewinnt sie das Ausgangsmaterial aus der Kunstbibliothek. Dort wählte sie die Porträts von zwanzig Künstlern, die sie als wahlverwandt bezeichnet, aus Katalogen und Zeitschriften aus. Die jeweilige Porträtvorlage überführte sie in einen Siebdruck, der wiederum mit einer weiteren flächendeckenden Farbe versehen wurde. Die endgültigen Bilder erscheinen daher nahezu monochrom, lediglich ein separates Plexiglasschild weist auf die ursprüngliche Quelle des Materials hin. In "Fußnoten" (1992) werden aus ähnlichen Quellen gewonnene, fotografisch reproduzierte Künstlerporträts gar teilweise von Papierschildern mit Fußnoten- oder Quellenhinweisen überdeckt.



Die künstlerische Beschäftigung mit Bibliotheken führte auch zu einem Kunst-am-Bau-Projekt für das Deutsche Bibliotheksinstitut in Berlin (1). 1997 erhielt Katrin von Maltzahn den Auftrag für die künstlerische Gestaltung des seinerzeit geplanten DBI-Neubaus in Berlin, der an der Ecke Dorotheen-/ Charlottenstrasse entstehen und erstmals alle Abteilungen in einem modernen Haus vereinigen sollte. Konsequenterweise bezog Katrin von Maltzahn ihren Entwurf sowohl auf die architektonische Form als auch auf die institutionelle Funktion des Gebäudes. Sie interpretierte das DBI als eine fachspezifische Forschungs- und Beratungseinrichtung, die im verzweigten Netz einer internationalen Bibliothekswelt arbeitet. Als entscheidende Arbeitsprozesse sah sie daher Kommunikation, Speicherung und die Organisation von Wissen. Daraus leitet sich das zentrale Motiv des Entwurfes ab, der Plain-ASCII Code (American Standard for Information Interchange) - ein Zeichensystem, das vor allem zur Speicherung und Informationsübertragung von Texten genutzt wird. Die Künstlerin sah die 94 grafischen Zeichen (2) des Codes (also Buchstaben, Satzzeichen etc.) für die tragenden Innenwände des Gebäudes vor, wo sie im oberen Wandbereich fortlaufend wie Zeilen über alle Etagen gehend angebracht werden sollten. Die Zeichen, als dreidimensionale Holzformen gefertigt, sollten spiegelverkehrt in die Wände eingelassen werden, um symbolisch und entsprechend der Zielrichtung eines Forschungs- und Beratungsinstitutes vom Inneren auf das Außen zu verweisen. Auf der Gebäudehaut hingegen, wurden zu beiden Straßenfronten hin die 34 "Control characters" des Codes (Steuerbefehle für den Computer) im Sockelbereich des Gebäudes angebracht, wo die Zeichen mit dem Gebäudeinneren korrespondieren. Dort, in den Kellerräumen, befinden sich zentrale technische Grundversorgungsanlagen wie Heizung, Wasser, Elektrik und Server. Ähnlich ist auch die Funktion der Zeichen, die als "Control characters" die Grundversorgung der Computerkommunikation sicherstellen. Während die aus Buchstaben zusammengesetzten Steuerbefehle wie ESC, NUL oder SYN in Computern immateriell, d.h. digital gespeichert sind, kommen sie auf der steinernen Gebäudehaut materiell zur Geltung. Sie werden eingemeißelt. In dieser Form erinnern sie auch an den Ursprung der Schrift, die in früheren Kulturen etwa als Keilschrift auf Ton- und Steintafeln eingraviert wurde. Motivisch hingegen weisen die als Computersteuerungscodes verwendeten Zeichen in die Zukunft.

Während die Künstlerin für die Wände des Gebäudes mit einem Zeichensystem, dem ASCII-Code arbeitet, verwendet sie für die Glasflächen ein weiteres zentrales Motiv: Farbsysteme. Farben sind der elementare Schlüssel für jegliche visuelle Informationswahrnehmung. Ohne Farbe wäre kein Bild, keine Schrift, keine Form denkbar. Für die meisten Informations- und Kommunikationsmedien werden zwei Systeme, das additive und das subtraktive Modell, als grundlegende Verfahren genutzt. Beide Modelle verwendet Katrin von Maltzahn in ihrem Entwurf. Beim additiven Verfahren, das vor allem in der Drucktechnik und in der Fotografie Anwendung findet, wird durch die Überlagerung farblicher Raster als Endpunkt der Überlagerung Schwarz erzeugt. Dieses Prinzip setzt die Künstlerin für das umlaufende Glasgeländer im Obergeschoss ein. Dort sind Rasterpunkte in den Farben Cyan-Blau, Magenta-Rot und Gelb so angebracht, dass sie sich je nach Betrachterstandort zu neuen Mischfarben überlagern. Das subtraktive Farbmodell, das vor allem bei elektronischen Kommunikationsinstrumenten wie Monitoren, Scannern oder Fernsehgeräten Anwendung findet, basiert auf einem entgegengesetzten Prinzip. Dort entwickelt sich durch die Überstrahlung roter, grüner und blauer Lichtstrahlen ein weißes Licht. Entsprechend nutzt die Künstlerin eine monitorähnliche Situation des Gebäudes, um das subtraktive Farbmodell anzuwenden. An einer großen Glasfront oberhalb des Haupteingangs sind alle ASCII-Zeichen als weiße, gesandstrahlte Formen angebracht. Hier, an einer der prominentesten Stellen des Gebäudes und an der markantesten Schnittstelle zwischen Innen und Außen, führt die Künstlerin noch einmal alle Elemente ihrer Arbeit exemplarisch zusammen, den kompletten Zeichensatz genauso wie die beiden Zentralmotive der Zeichen- und Farbsysteme. Das DBI wird damit als Knotenpunkt der Wahrnehmung, Kommunikation und Speicherung gekennzeichnet. In ihrer Erläuterung zum Gesamtprojekt hob die Künstlerin hervor: "Bei der Erarbeitung des Entwurfes war ebenso entscheidend, etwas adäquat den Prämissen von Architektur sowie denen von technischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Innovationen zu entwickeln. Der Faktor Zeit hat für mich eine entscheidende Rolle gespielt, denn ein Haus steht mindestens 100 Jahre; wie die Zukunft sich gestalten mag, vermag ich nicht vorherzusagen" (3). In der Tat, niemand hätte wohl voraussagen können, dass die zukunftsgerichtete Arbeit des DBI so bald schon durch die vernichtende Stellungnahme des Wissenschaftsrates in Frage gestellt sein würde. Am 14.11.1997 empfahl das Gremium, das Deutsche Bibliotheksinstitut von der "Blauen Liste" der überregional zu fördernden Forschungseinrichtungen zu streichen. Seitdem ist zahlreichen Protesten der Fachöffentlichkeit zum Trotz (auch die AKMB nahm in Jahrgang 4, 1998, H. 1 kritisch dazu Stellung) die Zukunft des DBI existentiell gefährdet. Unter diesen Umständen wurden leider weder die Neubaupläne noch Katrin von Maltzahns Entwurf ausgeführt.



Die Künstlerin entwickelte ihre Idee jedoch in anderer Form weiter. Für ihre 1998 entstandene Fotoarbeit "Die Suche nach einer vollkommenen Sprache" wählte sie wieder den Plain-ASCII-Zeichensatz als Ausgangspunkt. Allerdings beschränkte sie sich dabei allein auf die 94 grafischen Zeichen, die für die textliche Kommunikation relevant sind. Jedes dieser Zeichen, meist Buchstaben, wurde von ihr etwa 30 cm groß in Ton nachgeformt. Für ein abschließendes Foto hielt sie dann die jeweilige Tonform in ihren Händen. Alle so entstandenen 94 Farbfotos wurden dann zu einer Gesamtinstallation zusammengefügt, deren Anordnung der Reihenfolge des ASCII-Zeichensatzes entspricht. Wer ein Bildhaueratelier kennt, weiß, dass dort oft feuchter Ton in luftdichten Tonnen gelagert wird, um für plastische Entwürfe genutzt zu werden, die dann mit festeren Materialien abgegossen werden können. Wenn die Tonform nicht mehr benötigt wird, wandert sie als Material wieder zurück in die Tonne, um für neue Entwürfe zur Verfügung zu stehen. In von Maltzahns "Suche nach einer vollkommenen Sprache" besitzen die dargestellten Zeichen daher ähnlich universale Qualitäten wie das darstellende Material, der Ton. Beides, Buchstaben und Tonmasse, stehen als ständig neu formbares Basismaterial für unbegrenzt viele Neuformungen zur Verfügung. Die Verwendung von Ton verweist zudem auch auf die historische Dimension der Schrift. Ton diente bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. als Trägermaterial für die von den Sumerern erfundene Keilschrift. Diese Schrift ist, wie viele andere historische Zeichensysteme auch, aus einer ursprünglichen Bilderschrift hervorgegangen - ein Prozess, der exemplarisch für die allgemeine Entwicklung vieler Zeichen- und Schriftenkulturen steht, die sich von der konkreten, bildhaften Bedeutung hin zu abstrakten, universalen Systemen entwickelt haben. Katrin von Maltzahn vollzieht in ihrer Arbeit auch den umgekehrten Weg. Sie stellt ein technisch abstraktes Zeichensystem vor und überführt es zugleich wieder in konkrete Bilder.



Für ihren Künstlerbeitrag hat Katrin von Maltzahn alle 94 Zeichen aus der "Suche nach einer vollkommenen Sprache" auf dem Mittelblatt dieser AKMB-news Ausgabe verwendet. Die dort kleinformatig gedruckten Bilder sind im Original auf Holzkästen kaschiert und je 32,5 x 25 x 6 cm groß. Die Arbeit war 1997 als Gesamtinstallation, ca. 2,40 x 3,80 m groß, in der Berliner Galerie Puttkammer und 1998 im Rahmen der Ausstellung "h a transcontinental project" in Melbourne zu sehen. Nur zwei Exemplare der in einer Auflage von sieben herausgebrachten Edition sollen als Gesamtensemble erhalten bleiben, während die weiteren Exemplare in Einzelbildern zur Verfügung stehen. Einige Sammler haben diese Gelegenheit genutzt, um aus mehreren Einzelbildern bzw. Zeichen ein individuelles Ensemble, ein Wort oder ein persönliches Monogramm zu bilden. Entsprechend hat auch die Redaktion für diese News-Ausgabe vier Zeichen ausgewählt, um daraus eine gleichsam bildnerische und textliche Botschaft zu formen. Diese Sequenz ist als obere Bildreihe in diesem Artikel wiedergegeben. Korrespondierend dazu sind in der unteren Bildreihe identische ASCII-Elemente, Bestandteile von Katrin von Maltzahns 1998 entstandener Arbeit "Chatting with hands", abgebildet. Dort allerdings "sprechen" nur noch die Hände der Künstlerin. Katrin von Maltzahn hat die Positionen der Hände, die in "Der Suche nach einer vollkommenen Sprache" die Tonbuchstaben halten, Zeichen für Zeichen nachgestellt und fotografiert, nur diesmal ohne Buchstaben. Wenn man alle 94 Bilder dieser Arbeit sieht, vermitteln die Hände den Eindruck einer eigenen ausdrucksvollen gestischen Sprache. Wer einmal in Italien war, weiß auch, welche universale Möglichkeiten das Sprechen mit Händen ermöglicht. Die eigentliche Grundlage der Arbeit - der ASCII-Code - ist durch den Wegfall der sichtbaren Tonformen und Textzeichen auf Anhieb nicht mehr erkennbar. Das technisch eindeutig definierte Zeichen ist zugunsten eines mehrere Bedeutungen verkörpernden Bildes zurückgetreten. (4)

Auf ein anderes menschliches Sprachwerkzeug, den Mund, konzentrierte sich Katrin von Maltzahn in ihrer Arbeit "Anleitung zu einer annähernd korrekten Aussprache des Ungarischen", die 1998 im Rahmen der Ausstellung "Ich denke oft an Piroschka" im Ungarischen Kulturinstitut in Berlin zu sehen war. Auf 39 Aquarellen stellt sie ihren Mund bei der Aussprache der 39 ungarischen Buchstaben dar. Dazu kommt in der Gesamtinstallation noch die aquarellierte Rückensicht eines Kinderkopfes mit prominent hervorstehenden Segelohren. Damit bringt sie ein universales Zeichensystem, hier das ungarische Alphabet, auf seinen Ursprung, die gesprochene Sprache, zurück. Sie weist zugleich mit Mund und Ohr auf die physiologischen Sprachvoraussetzungen. Ebenso wie in den vorangegangenen Spracharbeiten tritt auch hier wieder die Person der Künstlerin (durch die Porträts ihres Mundes) bildhaft in Erscheinung. Eine andere und weitaus umfassendere Art der Selbstabbildung in einem System findet Katrin von Maltzahn bei ihrer Beschäftigung mit Kunstarchiven. Hier macht sie ihre Person nicht nur - wie in den bereits erwähnten fragmentarischen Porträtsituationen - zum bildlichen Gegenstand, sondern sie geht darüber hinaus, indem sie ihre eigene Künstlerbiografie als Werkzeug benutzt. Nachdem sie in früheren Arbeiten wie "Hyperpaintings" oder "The twenty framed monochromatics" noch die Verweisspuren namhafter Künstler in Bibliotheken und Publikationen verfolgt hatte, ging sie 1996 mit ihrer Arbeit "Katalog" erstmals daran, kunstwissenschaftliche Archivierungsstrategien an ihrem eigenen Werk erfahrbar zu machen. Der "Katalog" ist ein Objekt, das die Künstlerin für eine Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel "Something nice to hang" im Künstlerhaus Bethanien, Berlin, als Abschluss ihres dortigen Atelierstipendiums erarbeitet hat. Das entstandene Buch, der "Katalog", ist Kunstwerk und Werkverzeichnis in einem. Dort sind alle Arbeiten der Künstlerin aufgeführt, die im Zeitraum von November 1994 bis Januar 1996 entstanden sind. In dieser Zeit hatte sich Katrin von Maltzahn vor allem mit dem Gehalt der Sprachlehrbücher und -Filme beschäftigt, die ihr einst zum Englischlernen dienten. Diese Quellen verarbeitete sie zu Siebdrucken, Laserprints, Zeichnungen und Fotografien. Bücher, die einst zur Wissensvermittlung dienten, werden so zu Bildern, und diese Bilder finden wiederum Aufnahme in einem Buch, den "Katalog". Eine besondere Note der Arbeiten liegt in der Biografie der Künstlerin begründet: 1964 in Rostock geboren, 1977 mit der Familie nach Westdeutschland gezogen, lernte sie sowohl "Östliches" als auch "westliches" Englisch. Beides reflektiert sie. Aus "English for you", das in Ostberlin als Lehrbuch sowie im Film als DEFA-Sprachlernserie erschien, wählte sie einzelne Szenen aus, die sie zu künstlerischen Bildern weiterverarbeitete, z.B. durch die vergrößerte Wiedergabe einzelner Buchseiten und Bildmotive. So wird beispielsweise die mit stichwortbeschrifteten, gelben "post-its" beklebte Buchseite, auf der das Kapitel "Karl Marx in London" beginnt, zum Blatt einer Siebdruckserie. Auch der Film wird in eine Serie fotografierter Filmstandbilder transformiert, darunter auch das Bild einer Demonstration, das wohl in Analogie zu dem Buchkapitel "Preparing for a demonstration" entstanden ist. Katrin von Maltzahn hat auch auf westdeutsche Lehrmittelpendants wie z.B. die "How do you do" Englischbücher zurückgegriffen, die sie in verschiedenen Druck- und Zeichenserien verarbeitet. Dort spielen Motive wie Brigitte Bardot, deren Konterfei in dem Lehrbuch für die bildliche Worterklärung von "curly hair" herangezogen wird, oder Begriffe wie "discussion" und andere Bild-Wort-Kombinationen eine Rolle. An zahlreichen Details wird auch offenbar, wie sehr Bedeutung, Verstehen und Kommunikation durch ein Weltbild, bestimmte Codes oder gar Klischees geprägt sind. Ein und dieselbe Sprache kann unter völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen ganz andere Bedeutungen transportieren. Allein aus der Frage der Erreichbarkeit beziehungsweise der Unerreichbarkeit des Landes, dessen Sprache man lernt, ergeben sich jeweils grundlegend andere Lernperspektiven und Verständnismöglichkeiten. Wie bei all ihren Arbeiten setzt Katrin von Maltzahn auch in diesem Zusammenhang wieder menschliche Spuren ein, um das System oder die Rahmenbedingungen konkret erfahrbar zu machen. So besucht sie etwa zwei Hauptdarsteller der DEFA-Serie "English for you" in England, um mit ihnen ein Interview zu führen. Das Ergebnis, ein simulierter Zeitungsausschnitt, stellt sie als Kunstwerk aus. In ihren Serien "Traces" widmet sie sich den Spuren, die Schüler, vermutlich während langatmiger Unterrichtsstunden, in den Lehrbüchern hinterlassen haben. Unter anderem sind mit Kugelschreiber "nachgestylte" Frisuren ("Trace Ulrike F.") und durch Sprechblasen verfremdete Lektionsbilder zu sehen. Auch die Künstlerin selbst tritt wieder als Motiv in Erscheinung. Die schematischen Lehrbilder, an denen anhand gezeichneter Männchen Basisvokabeln wie "come" und "go" illustriert werden, doubelt sie in der Serie "Some basics" durch Fotografien ihrer Person. Katrin von Maltzahns "Sprachlern-Serien" lenken aber nicht nur den Blick auf die Rahmenbedingungen des Sprachenlernens (5). Im bibliothekarischen Kontext wird der weiterreichende Gehalt interessant, den die Arbeiten durch die systematische Dokumentation in einem "Katalog" erfahren. Für die Beschreibung und Archivierung aller 99 Arbeiten setzt die Künstlerin einen Schlüssel aus gängigen formalen Deskriptoren an: Titel, Jahr, Serie, Material, Farbe, Format, Auflage, Quelle und Beschreibung. Neben der Betrachtung der Rahmenbedingungen für das Erlernen der universalen (?) Sprache Englisch setzt sie damit die universalen (?) Rahmenbedingungen der Archivierung von Kunst. Die Texteinträge des "Katalogs" wurden von der Künstlerin in einem neutralen Duktus gehalten, der auch in der ausführlichen Beschreibung nicht wertet, sondern nur das wiedergibt, was auch jeder aufmerksame Beobachter wiedergeben könnte. Im Gegensatz zu der ausführlichen Textbeschreibung stehen die ergänzend hinzukommenden Schwarzweiß-Reproduktionen der Werke, die meist kleinformatig wiedergegeben sind, so klein, dass sie kaum Details der Arbeiten vermitteln können. Man stößt dadurch auf ein besonderes Phänomen des Kunstarchivs. Der Gehalt eines künstlerischen Werkes wird in einer Dokumentation oft erst über sekundäre Informationen, meist über Texte vermittelt. So werden in Katrin von Maltzahns Katalog die beschriebenen Werke, von denen die kleinen Reproduktionen nur eine grobe Ahnung vermitteln, erst in den schematisierten, akribischen Texteinträgen sichtbar. Im Katalog lässt sich daher der Text der bereits erwähnten "Preparing for a demonstration"-Buchlektion nicht über die ungenaue Bildwiedergabe, sondern nur noch über die wortgetreue Wiedergabe in der entsprechenden textlichen Beschreibungskategorie erfahren.

Auch in den folgenden Jahren beschäftigte sich Katrin von Maltzahn weiterhin intensiv mit der Frage, wie ein Archiv die Sicht auf ein künstlerisches Werk verändert. Bei ihr tritt auch die spannende Frage hinzu, wie der eigene Blick auf das eigene Archiv ihr Werk verändern wird. All ihre Arbeiten, die nach dem "Katalog" geschaffen wurden, entstanden auch in dem Bewusstsein, dass sie dokumentiert würden. An den "Katalog" anknüpfend soll nun aus Anlass von Katrin von Maltzahns Ausstellung im Kunstraum München (11.1.-26.2.2000) ein weiteres Werkverzeichnis bei Barbara Wien in Berlin erscheinen. Dort, in "Verlag Barbara Wien & Verlag", war auch bereits im Frühjahr Katrin von Maltzahns Ausstellung "Window views" zu sehen, eine Serie von Aquarellen, die nach der Vorlage ihrer Homepage entstanden ist. Auf den Bildern wurden die ursprünglichen Motive der Homepage spiegelverkehrt gemalt und in Originalgröße, Ausschnitten und Vergrößerungen wiedergegeben. Auch in dieser Arbeit wird ein System, die Homepage, mit ihrer komplexen Verweisungsstruktur als Ausgangspunkt zur Gewinnung künstlerischer Bilder genutzt. Das untersuchte Kommunikations- und Speichersystem, die Website im Internet, ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als die moderne Oberfläche eines Kunstarchivs. Entsprechend hat Katrin von Maltzahn ihr Archiv auch in dieses Medium umgesetzt. Auf ihrer Website (Adresse: http://www.katrinvm.de) sind alle Inhalte in den drei Rubriken "cv" (curriculum vitae), "works" (Werkverzeichnis) und "texts" (Rezensionen und Schriften) gefasst und dort in jeweils chronologischer Reihenfolge abgelegt. Für ihren Werkverzeichnisteil verwendet die Künstlerin einen ähnlichen Beschreibungsschlüssel wie in ihrem gedruckten "Katalog". Trotz ähnlicher Grundprinzipien, wie z.B. die auch in gedruckten Werkverzeichnissen geläufige Dualität von Bild- und Textinformation, funktioniert das vernetzte Archiv aber anders. Es eröffnet weitaus vielfältigere Verzweigungen und Referenzen, denen man durch Links schnell folgen kann. Der Klick von der Gesamtansicht einer Ausstellungsinstallation auf ein einzelnes Werk wird daher genauso möglich wie der Sprung zu den entsprechenden Ausstellungsbesprechungen. Die internationale Zugänglichkeit der Website schließlich verlangt auch das Verwenden einer universalen Sprache; deshalb sind die Texte der Website ausschließlich in Englisch. Allein durch diese wenigen Verschiebungen ändert das Medium auch die Botschaft des Archivs. Besonders deutlich wird das, wenn man auf Katrin von Maltzahns Sprachlernserien stößt. Neben "Östlichen" und "westlichen" Bedeutungen kommt nun auch ein globalisierter Sprachkontext als erweiterter Bedeutungsrahmen hinzu.


Gleich auf der Eingangsseite von Katrin von Maltzahns Homepage ist eine Zeichnung zu sehen, die man als Emblem für ihr gesamtes Werk deuten könnte. Es ist die Skizze des Verzeichnisbaumes, der die gesamte Verbindungsstruktur der Homepage wiedergibt. Das Bild kann sowohl als Zeichnung wie auch als Systemstruktur gelesen werden. Mehr noch, es lässt sich auch bedienen, um zu den hinterlegten Links zu springen. Es wird deutlich, dass die Künstlerin den Informations- und Kommunikationssystemen, die sie betrachtet, mehr als eine Dimension abzugewinnen versteht. Sie schafft künstlerische Bilder genauso wie sie Sprachbedingungen erforscht, Quellen befragt oder persönliche Spuren erfasst. Es sind genauer betrachtet Grundlagen der Kommunikation, "some basics", die sie spannend und auf immer neue Art hinterfragt. Da zahlreiche Fragen immer wieder auch in Bibliotheken und Archive führen, freuen wir uns besonders über den Künstlerbeitrag in diesem Heft. Die Redaktion bedankt sich dafür - und für die freundliche Unterstützung - herzlich bei Katrin von Maltzahn. Herzlichen Dank auch an Horst Bartels für den Satz und die grafische Gestaltung dieses Artikels.



Lutz Jahre (Kulturbüro und Stadtbücherei Flensburg)

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(1) Ausführliche Information in: Maltzahn, Katrin von: Kunst-am-Bau fuer das Deutsche Bibliotheksinstitut in Berlin. Erläuterungsbericht. Typoskript der Kuenstlerin. Berlin 1997.



(2) Der ursprünglich für die Telegrafentechnik entwickelte internationale Code wird heute von jedem Computer "beherrscht" und sorgt u.a. für eine problemlose, plattformunabhängige Textübertragung. Insgesamt werden beim Plain-ASCII 128 Zeichen definiert. 94 dieser Zeichen dienen der Wiedergabe von Texten lateinischer Schrift. Diese grafischen Zeichen entsprechen den Buchstaben des Alphabets sowie den gängigen Ziffern, Satzzeichen und Sonderzeichen. So wird beispielsweise das Zeichen 90 des Codes von jedem Computer als "Z" verstanden. Darüber hinaus sind weitere 34 Elemente als so genannte "Control characters" festgelegt, Codes, die nicht für die Information, sondern für die Steuerung des Computers notwendig sind (für Prozesse wie Zeilenvorschub, Löschen, Zurücksetzen und zahlreiche andere Tastaturbefehle).



(3) Maltzahn, Katrin von: Kunst-am-Bau für das Deutsche Bibliotheksinstitut in Berlin. Erläuterungsbericht. Typoskript der Künstlerin. Berlin 1997, S. 1.



(4) Wer ähnlich wie die News-Redaktion ein eigenes Bild aus Bestandteilen der Arbeit zusammensetzen möchte (nach dem Motto: "Ich will ein B, ein u, ein c ein h usw."), der sei an die Kunstbuchhandlung und Galerie "Barbara Wien " in Berlin, Linienstrasse 158, D-10115 Berlin (Tel.030/28 38 53 52) verwiesen. Dort ist die Edition auch in Teilen erhältlich.



(5) Vertiefender behandelt in: Büttner, Claudia: Sich nicht zwischen Duchamp und Mondrian entscheiden, Ad! In: BE # 4. Berlin: Künstlerhaus Bethanien, 1996, S. 125-126.